Wir begehen in diesem Jahr einen Jahrestag, der für die Geschichte der Bundesrepublik von zentraler Bedeutung ist: das Ende des Zweiten Weltkriegs vor siebzig Jahren. Dieser Krieg hatte binnen sechs Jahren die schier unfassbare Zahl von über 50 Millionen Menschenleben gefordert. Die Schätzungen, die Verbrechen und Kriegsspätfolgen einbeziehen, reichen sogar bis zu 80 Millionen Toten. Der 8. Mai 1945, der Tag der deutschen Kapitulation, hatte viele Gesichter; sein prägender Grundzug ist aber die Befreiung Deutschlands und Europas vom Terror der Nazis.
In diesem Jahr gab es am 20. Juni auch erstmals einen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung – in einem Jahr, in dem auf der Welt erstmals wieder so viele Menschen ihre Heimat verlassen haben, wie seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr. Als Datum wurde der UN-Flüchtlingstag gewählt. Sigrid Leneis, drei Jahrzehnte lang Kulturreferentin der bayerischen Landesgruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft, äußerte kürzlich in einem Zeitungsinterview, wenn sie die aktuellen Bilder von Flüchtlingen im Fernsehen sehe, spüre sie sofort wieder die Angst, die sie als Kind hatte. „Ich war von einem auf den anderen Tag kein Kind mehr“. Gerade mal 45 Minuten blieben ihr und ihrer Mutter, um das Nötigste zusammenzuraffen.
Wer heute gegen Einwanderung auf die Straße geht, verdrängt die Migrationsgeschichte unseres Landes. In der Nachkriegszeit hat das Land Millionen Vertriebene aus dem Osten aufgenommen – und von ihnen profitiert. Ein Bollerwagen, ein Koffer mit Kleidung, ein Federbett, manchmal auch nur das nackte Leben – für 12 bis 14 Millionen Deutsche war das nach dem Ende des zweiten Weltkrieges alles, was ihnen aus ihrer alten Heimat geblieben war. 70 Jahre nach Kriegsende rückt der 8. Mai auch das Schicksal der deutschen Flüchtlinge wieder ins Blickfeld. Viele flohen schon in den letzten Kriegsmonaten aus Schlesien, Ostpreußen, Pommern oder dem Sudetenland vor der Roten Armee. Im Potsdamer Abkommen vom Sommer 1945 einigten sich die Alliierten dann auf die Zwangsaussiedlung von Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn.
Nach Flucht oder Vertreibung mussten die entwurzelten Menschen im neuen Leben mit widrigen Bedingungen fertig werden. Für die eigenen Landsleute waren die Flüchtlinge oft unwillkommene Eindringlinge mit fremdem Dialekt, Konkurrenten um das Wenige im zerbombten Land, „Polacken“ oder „Rucksackdeutsche“. Fremde Leute wurden plötzlich in ein beschlagnahmtes Zimmer der eigenen Wohnung gesteckt. Heim und Herd mussten geteilt werden. Auf die Frage, ob sie vor 70 Jahren in ihrer neuen Heimat eine „Willkommenskultur“ erfahren hätten, antwortet ein Sudetendeutscher: Wir sind nur angekommen, aufgenommen wurden wir nicht. Christoph Hein, selbst aus Schlesien stammend, hat in seinem Roman Landnahme das Dilemma der Neuankömmlinge treffend beschrieben: "Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat.“
Wer die aktuelle Fluchtwelle mit der Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, muss mit bösen Reaktionen rechnen. Aber der Blick zurück zeigt, dass die Belastung für die einheimische Bevölkerung damals ungleich höher war als heute.
Beispiel Bayern: ein nicht enden wollender Strom von Flüchtlingen, Angst vor wachsender Kriminalität, Fremdenfeindlichkeit. "Die Flüchtlinge müssen hinausgeworfen werden, und die Bauern müssen dabei tatkräftig mithelfen", heizt ein Redner die wütende Stimmung bei einer Kundgebung ein.
Eine Pegida-Demonstration im Herbst 2015? Mitnichten. Diese Sätze fallen am Osterfeiertag 1947 auf dem Bauerntag im bayerischen Traunstein. Das Presseecho ist groß. Der Redner ist Jakob Fischbacher, Mitgründer der Bayernpartei und des Bayerischen Bauernverbands. Auch bei uns in Pegnitz gab es Leute, die die Flüchtlinge mit den Mistgabeln im Anschlag „empfangen“ haben.
Fischbacher treiben der Hass und die Angst vor Überfremdung - obwohl es doch "Volksdeutsche" und keine Syrer sind, die da nach Bayern kommen. Er schimpft gar über "Blutschande". Gemeint sind Heiraten zwischen bayerischen Bauernburschen und zugewanderten Frauen. Es bedienten sich so viele Fremde an den bayerischen Futterkrippen, klagt einige Monate später Fischbachers Parteifreund Andreas Schachner in einem Brief, "dass Pogrome nötig wären, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen".
All jene, die damals ein Scheitern der Integration voraussagten, konnten nicht weiter danebenliegen. Entgegen aller Unkenrufe, Ablehnung und Bedenken wurden die Flüchtlinge zu Motoren einer ungeahnten Modernisierung, sie brachen verkrustete Strukturen auf, und sie trugen maßgeblich zum Wiederaufbau Deutschlands bei. Sie waren mobil, konnten überall neu anfangen und gingen dorthin, wo Arbeit war. Gleichzeitig brachten sie wichtige Qualifikationen mit, und gerade die Jungen waren hoch motiviert, mit ihrer Arbeitskraft ein neues Leben aufzubauen. Alles in allem hat Deutschland mit der Integration von Millionen Vertriebenen eine ungeheure kulturelle und soziale Herausforderung gestemmt und großartig profitiert.
Auch die Pegnitzer „Neu-Bürger“ waren nicht nur Konkurrenten im Kampf ums Alltägliche, sondern sie wirkten Impuls spendend auf das Wirtschaftswesen: Firmen wie z.B. Teppich-Poser aus Thüringen nahm am 2. Januar 1950 seine Produktion in den ehemaligen Wehrmachtshallen mit Erfolg neu auf. Auf das Vereinswesen wirkten die, die aus dem bergigen Sudetenland bzw. aus dem Erzgebirge stammten, ein und brachten ihre Begeisterung für den Wintersport und die Musik mit nach Pegnitz und machten beides unter den Einheimischen populär. Auch wurden dem „spröden fränkischen Städtchen“ (H. Scherer) Menschen beschert, die in ihrer alten Heimat im kulturellen Leben tätig gewesen waren und ihr Können am neuen Ort anboten. Die ersten Nachkriegsjahre waren daher eine Zeit fruchtbarer kultureller Entfaltung auch in Pegnitz.
Für unsere Region können wir in der Rückschau das bestätigen, was Herbert Scherer so formuliert hat: „Ohne die zahlreichen Evakurierten, Flüchtlinge und Heimatvertriebenen die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Pegnitz niederließen, wäre die Stadt wohl nicht das geworden, was sie heute ist.“
70 Jahre später ist weitgehend in Vergessenheit geraten, wie ungeheuer schwierig die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen war. So berichtet der Journalist Carsten Hoefer in der Tageszeitung „Die Welt“ am 12.10.2015: „Auf die heutige Bevölkerungszahl umgerechnet, würde dies bedeuten, dass 3,8 Millionen deutschsprachige Neubürger zwangsweise nach Bayern umsiedeln müssten, und die Kosten durch eine 50-prozentige Vermögensabgabe den Einheimischen aufgebürdet würden.“
Zudem war die bayerische Bevölkerung Fremde damals noch weit weniger gewohnt als heute. Die Sudetendeutschen standen den Bayern vergleichsweise nah, nicht jedoch Ostpreußen, Schlesier oder die deutschen Minderheiten vom Balkan.
Viele Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten waren Protestanten, speziell in den tief katholischen Gegenden Bayerns fast so fremd wie heute Moslems. Die beiden großen christlichen Konfessionen einte nicht die Ökumene, sondern trennte eine tiefe Kluft. Streng gläubige Protestanten kamen in fast 100-prozentig katholische Gegenden. Welche Anfeindungen sich Protestanten damals gefallen lassen mussten, können manche noch heute berichten: "Eine evangelisch-lutherische Frau zu heiraten, konnte dazu führen, dass zwei Familien gesprengt wurden", weiß der Historiker Thomas Schlemmer, Spezialist für bayerische Nachkriegsgeschichte am Münchener Institut für Zeitgeschichte.
Und dennoch: Trotz der katastrophalen Voraussetzungen gelang die Integration - sehr viel besser, als notleidende Bürger und Politiker das in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu hoffen wagten.
Ein ganz wesentliches Element war naturgemäß, dass die damaligen Flüchtlinge und Vertriebenen ungeachtet aller Anfeindungen und Diskriminierung Deutsche waren und über ein vergleichbares, in vielen Fällen sogar höheres Bildungsniveau verfügten als die Einheimischen. Ein weiterer Faktor: Zwang. Weder Bürger noch bayerische Behörden hatten ein Mittel des Widerstands gegen die Anordnungen des Alliierten Kontrollrats.
Nicht zuletzt erleichterte der Boom der Wirtschaftswunderjahre die Integration ganz ungemein. Auch die Sozialpolitik hat eine Rolle gespielt. Durch Umverteilung von Vermögen wurde es den Vertriebenen ermöglicht, eine neue Existenz aufzubauen.
Und heute? Als Muster für die aktuelle Situation taugen die aus der Not geborenen Zwangsmaßnahmen der Nachkriegsgeschichte sicher nicht. Wohnungen zu beschlagnahmen ist so undenkbar wie eine 50-prozentige Vermögensabgabe.
Doch sind die Ausgangsvoraussetzungen heute um ein Vielfaches günstiger als 1945. Und die erfolgreiche Integration der Vertriebenen zeigt zumindest, dass auch zunächst ganz unmöglich erscheinende Aufgaben gemeistert werden können. Angesichts solcher Erfahrungen sollten wir uns heute nicht nur Sorgen machen sondern uns an unsere eigenen Familiengeschichten erinnern. Millionen Biografien in Deutschland sind in ihrem Kern von einem Flüchtlingsschicksal geprägt. Für sie alle steht der Handwagen im British Museum gleichsam als Beispiel. Er symbolisiert diese kollektive Erfahrung, macht die Geschichte des Flüchtlingslandes Deutschland verständlich und verweist darüber hinaus auf die globalen Flüchtlingsfragen unserer Gegenwart: Der Handwagen von einst ist das auf dem Mittelmeer treibende Boot von heute.
Ein Grundrecht auf Asyl wurde damals ohne Wenn und Aber ins Grundgesetz geschrieben. Es ist am 8. Mai 1949 in Kraft getreten. Die Grundrechte sind auch deswegen so eindrucksvoll, weil sie auf wackligem Fundament geschrieben wurden und doch gar nichts Kraftloses hatten sondern ein eindrucksvoller Beweis für Mut und Stärke einer Gesellschaft waren und sind. Dieses Bewusstsein für Menschenrechte, das Vertrauen in Menschenrechte, braucht Europa heute; es ist ein Bewusstsein für eine gute Zukunft. Irgendwelche Ablehnungsgründe kann man immer finden; besser ist es, Gründe für die Aufnahme zu finden. Es wäre gut, wenn man stolz sein könnte auf ein humanes und offenes Europa. Bewahren wir also unseren Anstand und stehen zu unseren Werten. Wenn jetzt in Europa wieder Zäune gebaut werden, ist das beschämend und erinnert an die eisigen Zeitn des kalten Krieges. Der finnische Politiker Urho Kekkonen (Staatspräsident 1956 – 81) hat einen klugen Satz gesagt:
Sicherheit erreicht man nicht, indem man Zäune errichtet, Sicherheit gewinnt man, indem man Tore öffnet.